Im letzten Beitrag habe ich darüber gesprochen, wie mein Essverhalten sich heute, 5 Jahre nach meiner Essstörung, auf körperlicher Ebene verändert hat. Ich habe auch darüber gesprochen, dass sich durch meine Essstörung nicht nur mein Essverhalten, sondern mein komplettes Leben verändert hat.

Ich werde auch in diesem Beitrag nicht einmal ansatzweise ausdrücken können, was sich alles in meinem Bewusstsein, meiner Perspektive und meiner emotionalen Innenwelt verändert hat, aber ich werde es zumindest probieren und einige Punkte ansprechen, die sehr wichtig für mich sind und die mein Leben ausschlaggebend verändert haben.

Das Essen war nie das Problem

Dafür möchte ich gerne an dem Punkt beginnen, als ich wirklich erkannt habe, dass meine Essstörung nicht das Problem war, sondern dass ich, wie ich in der letzten Folge beschrieben, das Thema Essen auf mein Unglücklichsein obendrauf gesetzt habe.

Als ich damals wirklich begonnen habe, zu verstehen, dass ich nicht gegen meinen Essensdrang, gegen meine Gelüste und auch nicht gegen meinen Selbsthass und all die Vorwürfe, die ich mir selber machte, ankämpfen konnte, hat gefühlt mein eigentliches Leben erst begonnen.

Als ich dann angefangen habe, zu analysieren und zu erkennen, dass fast jeder Aspekt meines Lebens auf Selbsthass aufgebaut war und ich viele Entscheidungen aus Angst getroffen habe, weil mein Selbstwertgefühl sehr klein und schwach war, wurde mir vieles bewusst und klar.

Das bedeutet, dass die Essstörung oft nur ein Puzzlestück eines viel größeren Bildes ist. Ich war damals z.B. auch in einer sehr toxischen Beziehung, habe viel von Anerkennung gelebt, wusste aber nicht, was überhaupt die Gründe dafür sind und wie ich mit meinen Emotionen umgehen sollte.

Ich habe mir auch nie so wirklich Gedanken darüber gemacht, wieso ich was tat, was meine eigentliche Motivation dahinter war und was in Wahrheit der Sinn meines Lebens ist. Und wenn ich es getan habe, haben meine Gedanken immer nur an der Oberfläche gekratzt.

Begraben unter der gesellschaftlichen Identität

Ohne ihn wirklich zu hinterfragen, ging ich den Weg, der mir „normal“ erschien, den Weg, der den Vorstellungen der Gesellschaft entspricht. Ja, natürlich habe ich gelegentlich darüber nachgedacht, was mir Spaß macht, aber ich habe mich und meinen Horizont dabei sehr stark begrenzt. Ich hatte ein genaues Bild davon im Kopf, wie ich zu sein habe, wie das Leben aussehen soll und auch welche Gefühle gut und welche schlecht sind.

Ich hatte eine Identität aufgebaut, gegründet auf lauter Meinungen, Konditionierungen, Ängsten und Vorstellungen. Ich wusste nicht mehr, wer ich selbst war unter all diesen fremden Identitäten.

Ich habe mich gefühlt wie in einem unsichtbaren Gefängnis. Es war als würde mich die schwere Last der vorgegebenen Identitäten in die Knie zwingen.

In uns jedoch wird die Sehnsucht nie verschwinden, uns von all dem freizumachen. In uns wird es weiter schreien, bis wir hoffentlich irgendwann verstehen, nach was wir uns eigentlich sehnen.

Kennst du den Gedanken und den Wunsch, einfach abzuhauen? Von all dem zu fliehen? Ganz weit weg zu gehen?

Eigentlich ist das der Wunsch, dich von an den Begrenzungen und  auferlegten Identitäten freizumachen und einfach DU zu sein.

Das Tor zu meiner Innenwelt war verschlossen

Ich wusste nicht mehr, wer ich war, OHNE meine Essstörung. Ich wusste nicht mehr, wer ich war, OHNE meinen zwanghaften Drang, alles zu kontrollieren, zu tracken und Sport zu meinem Lebensinhalt zu machen.

Doch dass ich all das auf Selbsthass aufgebaut hatte, brachte mich nicht nur immer weiter von mir weg, sondern versperrte mir auch die Möglichkeit, wirklich ICH zu sein, bzw. herauszufinden, wer ich eigentlich bin.

All das war mir niemals bewusst. Stattdessen wurde es in mir immer enger. Meine Gedanken, aufgebaut auf meinen alten Seelenwunden, meine Verurteilungen, aufgebaut auf Selbsthass, meine Gegenmaßnahmen, aufgebaut auf dem Versuch, irgendwann glücklich zu werden und meine Betäubungen, aufgebaut auf purer Verzweiflung, sind zu meiner Identität geworden und es war unmöglich mich davon zu befreien ohne etwas NEUES, echtes ECHTES aufgebaut zu haben.

Wenn es mir also emotional gerade nicht gut ging, habe ich mich einfach betäubt und neue Versuche gestartet, besser zu werden. Entweder bin ich zum X-ten Mal zurück zu meinem toxischen Freund gegangen, nur um nicht mit den Gefühlen konfrontiert zu sein, die mich doch so sehr überforderten oder ich habe Serien geschaut, gegessen, mich mit Freunden getroffen oder nach sonstigen Möglichkeiten gesucht, mich zu betäuben. Oder aber ich habe mir wieder einen neuen Diät- oder Trainingsplan erstellt, um über diesen Weg glücklich zu werden.

All das habe ich immer wieder gemacht, weil ich nie verstanden hatte, wer ich eigentlich bin, wieso ich all das tat oder wie meine emotionale und unterbewusste Innenwelt überhaupt funktionierte.

Und wenn ich Innenwelt sage, meine ich WELT. In uns ist eine ganze WELT mit ihren ganz eigenen Regeln, ihren eigenen Farben, ihrem eigenen Leben und wir haben uns von ihr abgegrenzt und tun so, als würde sie nicht existieren.

Wir haben nie ihre Regeln und Gesetze gelernt und wundern uns dann, wieso in uns so ein Durcheinander ist.

Es ist, als spielten wir „Mensch ärgere dich nicht“ und kannten die Regeln nicht und wunderten uns, wieso wir keine Chance haben, zu gewinnen und immer und immer wieder rausfliegen.

Loslassen und ins Vertrauen kommen

Ich habe neben der Arbeit mit meinen Seelenwunden, meinen Schutzprogrammen, Verknüpfungen etc. vor allem auch an einer Sache gearbeitet: dem LOSLASSEN!

Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich mich an vielen Dingen, Menschen und Situationen aus Angst festgeklammert habe. Weil ich dachte, dass ich sie bräuchte, um glücklich zu sein. Dinge, die nicht zu mir gehörten und die mich nicht glücklich machten. Das waren nicht nur äußere Dinge, sondern auch sehr viele Konditionierungen, Verhaltensweisen uvm. Um dir ein konkretes Beispiel zu geben: Ich habe an sehr vielen Punkten zwanghaft Kontrolle ausgeübt, weil meine Schutzprogramme diese Kontrolle brauchten.

Das Spannende war: Je mehr ich losgelassen habe, desto ruhiger wurde es in mir. Ja, wir haben diese panische Angst in uns, dass wir den Boden unter den Füßen verlieren, wenn wir loslassen, dabei passiert genau das Gegenteil.

Was ich jetzt sage, ist ganz ganz wichtig:

Wir haben so eine Angst davor, dass wir einem kompletten Kontrollverlust unterliegen, wenn wir die Kontrolle abgeben, doch es passiert genau das Gegenteil, denn:

Das Gegenteil von Kontrolle ist NICHT Kontrollverlust,

Das Gegenteil von Kontrolle ist VERTRAUEN!

Auf meiner Reise habe ich also vor allem zurück zu mir selbst gefunden und gleichermaßen begonnen, wirklich zu vertrauen. Unsere Wahrheit und unseren Wesenskern finden wir nicht, indem wir suchen – wir legen all das stattdessen frei, wenn wir beginnen, uns zu verstehen und die Dinge loszulassen, die wir nicht sind und die NICHT zu uns gehören. Dadurch kommen wir uns immer und immer näher.

Ich habe im Laufe meines Prozesses vor allem verstanden, dass das Leben nicht gegen mich ist, sondern IMMER für mich. Selbst die ausweglosesten Situationen, die uns so unfair erscheinen und in denen wir uns so unglaublich gerne in die Opferrolle fallen lassen, sind nie gegen uns, sondern zeigen uns auf, dass etwas in uns heilen möchte, dass wir gerade einen Weg gehen, auf dem wir gegen uns selbst arbeiten oder dass es an der Zeit ist, zu wachsen. Das bedeutet, dass ich im Allgemeinen Frieden geschlossen habe mit dem Leben, aus der Opferrolle herausgetreten bin.

Heute habe ich den Kampf beendet und bin im Frieden mit mir

Ich möchte jetzt darüber sprechen, wie heute mein Leben aussieht, durch den inneren Weg der Heilung und meine innere Reise:

Wenn ich mein Leben heute mit dem vor meiner inneren Reise vergleiche, kann ich ganz klar sagen, dass ich mich früher in einem Kampf befunden habe und heute Frieden mit mir, meinem Körper und dem Leben geschlossen habe. Ich bin mir heute so nah, wie nie zuvor und habe eine tiefe Verbindung zu mir und zum Leben aufgebaut.

Ich bekomme gerne immer mal wieder die Frage: „Wenn man dich in deiner Story sieht, siehst du immer so glücklich aus. Ist das real?“

Und ich kann ganz klar sagen: JA!!! Ich habe vor langer Zeit meine Maske abgelegt und kann ganz klar und offen sagen, wenn mich ein Thema beschäftigt, wenn ich Erkenntnisse habe oder irgendwo getriggert bin. Aber ich gehe schlichtweg nicht mehr durch diese tiefen Löcher, in denen meine Welt einfach schwarz ist, weil ich schon sehr lange nicht mehr in eine Opferrolle falle.

Ich möchte dazu sagen, dass ich während meiner Reise mit sehr, sehr vielen Gefühlen konfrontiert war, die alle Raum brauchen und denen ich sehr viel Aufmerksamkeit schenken durfte, aber heute ist es vielmehr so, dass ich gelegentlich mit Themen in Kontakt komme, die mich herausfordern oder mich emotional berühren und ich versinke nicht mehr in die Opferrolle und in eine Verzweiflung und Überforderung, sondern ich schaue mir an, was in mir los ist und wieso dieses Thema gerade zu mir kommt. Ich bin einfach zurück in meine Selbstermächtigung gekommen, weil ich eine Sache verstanden habe: ICH allein entscheide, wie es mir gehen soll. Und das ist kein Kampf, sondern sich selbst sehr, sehr gut zu kennen und ein tiefes Vertrauen zum Leben zu haben.

Ich sehe es heute nicht mehr als normal an, morgens aufzustehen und eine dunkle Wolke um sich herum zu haben. Ich wache morgens auf und spüre Dankbarkeit und Liebe. Natürlich gibt es auch mal Tage, an denen ich mich gestresst fühle und auch das erkenne ich in dem Moment und arbeite genau mit diesem Thema und weiß dann, dass ich mich erst Recht erst einmal zurück in meine innere Ruhe bringen darf.

Ich bin also im Allgemeinen sehr sanft und liebevoll mit mir geworden, ohne einfach zu verdrängen. Diese schwarzen Tage, bei denen wir oft suggeriert bekommen, dass sie normal seien, haben ebenfalls einen Ursprung und sind in der Regel der Ausdruck vieler Verdrängungen, bis sich das ganze Thema nach und nach zuspitzt.

Zusammengefasst würde ich sagen, dass ich, also mein ECHTES ICH, und nicht meine alten Verletzungen und Konditionierungen wieder das Zepter in der Hand halten und dass ich sehr einfach in die Beobachterrolle schlüpfen kann, wenn ein alter verletzter Anteil von mir aktiv wird, ohne dass mich dieser Teil einfach mit in die Tiefe reißt.

All das ist der Ausdruck meiner inneren Reise, die ich mit großer Wahrscheinlichkeit nie angetreten hätte, hätte meine Essstörung mich nicht mit so einer Wucht darauf gestoßen.

Ich sage immer, dass ich sehr dankbar für diesen Ausdruck bin, denn das ganze hätte sich vielleicht auch in anderen Süchten zeigen können, hinter denen ich nie das wahre Problem entdeckt hätte.

Aber die Essstörung hat mir gezeigt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist und nur so bin ich mit all diesen Themen in Kontakt gekommen.

Deine Außenwelt ist ein Spiegel Deiner Innenwelt

Seitdem hat sich nicht nur mein Essverhalten und meine Innenwelt stark verändert, sondern auch meine Außenwelt.

Ich führe heute eine sehr tiefe und innige Beziehung, wie es mir früher niemals möglich gewesen wäre, da ich immer in der Bettlerrolle war und mein Herz nur bis zu einem gewissen Grad öffnen konnte. Ich habe viel erwartet und hatte gleichzeitig starke Angst, verletzt oder verlassen zu werden. Auf diesem Fundament ist eine tiefe, innige Beziehung natürlich kaum möglich.

Ich konnte durch all die Punkte, die ich ablegen konnte, meine wahre und echte Berufung finden, die mich in meiner Tiefe erfüllt. Ich habe nicht danach gesucht, sondern Schicht für Schicht abgetragen – wie bei einer Zwiebel –  und bin so immer näher dahin gekommen, wer ich eigentlich bin und daraus hat sich alles Weitere entwickelt.

Ich führe heute sehr tiefe Freundschaften, weil ich die Menschen angezogen habe, die zu mir gehören, weil ich endlich und wahrhaftig ohne Maske zeigen konnte, wer ich wirklich bin und dadurch Menschen anziehen konnte, die mich sehen, wie ich wirklich bin und die zu mir passen.

Vor allem aber trage ich mittlerweile ein sehr tiefes Vertrauen in mir, dass im Leben alles gut wird. Selbst wenn ich all das wieder verlieren würde, wäre das okay, denn ich weiß, dass ich immer wieder die Dinge anziehen werde, die zu mir gehören, weil ich ICH bin und auf meinem Lebensweg gehe. Das war früher natürlich nicht möglich, da ich weder einen Zugriff zu meiner Intuition hatte, noch mir selber vertrauen konnte oder meinen Wert kannte.

Und genau deswegen habe ich heute auch einen Liebesbrief an meine Essstörung schreiben können.

DANKE für alles, liebe Essstörung. Danke, dass ich durch dich sehen durfte, wer ich wirklich bin. Danke, dass du mich zurück auf meinen Weg geführt hast.

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